Wirkungsvolle Gespräche mit Lehrlingen in Krisensituationen

Wirkungsvolle Gespräche mit Lehrlingen in Krisensituationen
Photo by Volodymyr Hryshchenko / Unsplash

Ein Lehrling kommt auf dich zu. Die Schultern hängen, der Blick ist gesenkt, die Leistung im Betrieb hat nachgelassen. Dein erster Impuls, geboren aus echter Fürsorge und dem Wunsch zu helfen, ist wahrscheinlich: „Was ist los? Komm, wir finden eine Lösung. Hast du schon versucht, …?“ Dieser Impuls ist menschlich, verständlich und gut gemeint. Aber in den meisten Fällen ist er nicht das, was dein Lehrling in diesem Moment wirklich braucht. Willkommen in der Lösungs-Falle.

Wir leben in einer Welt, die auf Effizienz und Problemlösung getrimmt ist. Doch die Krisen, mit denen junge Menschen heute konfrontiert sind, lassen sich selten mit einem schnellen Ratschlag oder einer einfachen Handlungsanweisung beheben. Die Zahlen zeichnen ein düsteres Bild: Studien zeigen, dass bis zu 67 % der Lehrlinge von depressiven Episoden berichten, 27 % mit Suizidgedanken kämpfen und bis zu 30 % Mobbing am Arbeitsplatz erleben.Die COVID-19-Pandemie hat diese Belastungen noch verstärkt, wobei fast die Hälfte der Lehrlinge Anzeichen von Depressionen oder Angstzuständen zeigt.Das sind keine „schlechten Tage“ oder jugendliche Launen. Das sind ernsthafte psychische Belastungen, die direkt an ihrem Ausbildungsplatz, bei dir, ankommen. 

Wenn wir also mit unserem Lösungsreflex vorpreschen, übersehen wir eine entscheidende Wahrheit: Junge Menschen fühlen sich oft nicht ernst genommen und mit ihren Sorgen alleingelassen.Ein voreiliger Lösungsvorschlag kann, ohne dass wir es beabsichtigen, genau diese Botschaft senden: „Dein Gefühl ist ein Problem, das wir schnell beseitigen müssen.“ Statt Verbindung zu schaffen, erzeugen wir Distanz und verstärken das Gefühl, eine „Last“ oder ein „Defekt“ zu sein.  

Was also ist die Alternative? Sie liegt in einem radikalen Perspektivwechsel, den eine erfahrene Psychologin einmal treffend zusammenfasste. In ihrem Büro hing jahrelang ein Mauspad mit dem Spruch: „Ich habe keine Lösung, aber ich bewundere das Problem.“.Was als Scherz begann, entpuppte sich als tiefgreifende Weisheit für die Krisenkommunikation. „Das Problem zu bewundern“ bedeutet, ihm Raum zu geben. Es bedeutet, die vorschnellen Antworten zurückzuhalten und stattdessen mit echter Neugier und ohne Urteil zu fragen: „Was ist hier los? Wie fühlt sich das an? Erzähl mir mehr.“ Es bedeutet, die emotionale Wucht eines Problems anzuerkennen, bevor man überhaupt an eine Lösung denkt.  

Dieser Artikel ist dein Wegweiser, um aus der Lösungs-Falle auszubrechen. Er stellt dir ein praxiserprobtes Vier-Phasen-Modell vor – Sehen, Verstehen, Akzeptieren und Verändern –, das dir helfen wird, vom reinen Ausbilder zu einem unschätzbar wertvollen Wegbegleiter für deine Lehrlinge zu werden. Du wirst lernen, wie du durch wirkungsvolle Gesprächsführung ein Fundament aus Vertrauen und Sicherheit baust, auf dem echte, nachhaltige Veränderung überhaupt erst wachsen kann.

Dein Kompass im Gespräch: Die vier Phasen auf einen Blick

Bevor wir tief in jede einzelne Phase eintauchen, dient diese Übersicht als dein mentaler Kompass. Sie fasst die Essenz des Modells zusammen und gibt dir eine klare Struktur an die Hand, die du auch in angespannten Situationen im Kopf behalten kannst. Betrachte diese Phasen nicht als starre Checkliste, sondern als einen fließenden, oft kreisförmigen Tanz. Manchmal wirst du lange zwischen Verstehen und Akzeptieren pendeln, bevor die Phase des Veränderns überhaupt in Sicht kommt.

Phase

Ziel

Deine Haltung

Schlüsselsätze & Aktionen

1. Sehen

Wahrnehmen & Kontakt herstellen

Präsent, aufmerksam, unvoreingenommen

"Ich sehe, dass du heute sehr angespannt wirkst." "Mir ist aufgefallen, dass..."

2. Verstehen

Die Welt des anderen erkunden

Neugierig, offen, nicht-wertend

"Magst du mir mehr darüber erzählen?" "Habe ich das richtig verstanden, dass...?"

3. Akzeptieren

Emotionale Sicherheit geben

Empathisch, validierend, wertschätzend

"Das klingt unglaublich hart. Ich kann verstehen, dass du dich so fühlst." "Es ist okay, wütend/traurig zu sein."

4. Verändern

Zur Selbsthilfe ermächtigen

Unterstützend, ressourcenorientiert, begleitend

"Was hat dir in der Vergangenheit geholfen?" "Was wäre aus deiner Sicht ein kleiner erster Schritt?"

Dieses Gerüst hilft dir, die abstrakten Konzepte wie Empathie in konkrete, anwendbare Handlungen zu übersetzen. Es gibt dir die Sicherheit, ein Gespräch bewusst zu steuern – weg von vorschnellen Lösungen und hin zu echtem Verständnis.

Phase 1: SEHEN – Die Kunst, wirklich präsent zu sein

Die erste Phase, das Sehen, ist weit mehr als ein passiver Akt des Schauens. Es ist eine bewusste Entscheidung, deine volle, ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. In einer Welt voller Ablenkungen ist diese Präsenz vielleicht das erste und größte Geschenk, das du deinem Lehrling machen kannst. Es signalisiert: „In diesem Moment bist du das Wichtigste.“. 

Den richtigen Rahmen schaffen

Ein tiefgehendes Gespräch kann nicht zwischen Tür und Angel oder im Lärm der Werkshalle stattfinden. Deine erste Handlung in der „Sehen“-Phase ist es, einen geschützten Raum zu schaffen. Das kann ein leeres Büro, ein ungestörter Pausenraum oder ein Besprechungszimmer sein. Schließe die Tür, lege dein Smartphone mit dem Bildschirm nach unten auf den Tisch und minimiere alle digitalen Ablenkungen. Diese einfachen Handlungen sind ein nonverbales Versprechen: „Hier bist du sicher, hier hört dir jemand zu.“. 

Mehr als nur Worte: Nonverbale Signale lesen

Kommunikation ist zu über 50 % nonverbal.Die wahre Geschichte erzählt oft nicht der Mund, sondern der Körper. In der „Sehen“-Phase wirst du zum aufmerksamen Beobachter. Achte auf die Details, die oft mehr aussagen als tausend Worte:  

  • Körperhaltung: Sind die Schultern nach vorne gekrümmt? Ist der Körper angespannt oder in sich zusammengesunken?
  • Gestik: Sind die Hände zu Fäusten geballt, nesteln sie nervös an der Kleidung oder zittern sie vielleicht sogar? Die Aussage aus dem Webinar „Ich sehe, dir zittern richtig die Hände“ ist ein perfektes Beispiel für diese Art der Wahrnehmung. 
  • Mimik und Blickkontakt: Ist der Blick leer oder ins Leere gerichtet? Wird Augenkontakt vermieden? Welche Emotionen spiegeln sich im Gesicht wider – Trauer, Wut, Angst?. 
  • Stimme: Ist die Stimme leise und brüchig oder gepresst und angespannt?

Diese Beobachtungen sind dein Einstiegspunkt. Du sammelst sie nicht, um zu diagnostizieren, sondern um den Kontakt auf eine ehrliche und fürsorgliche Weise herzustellen.

Den Kontakt herstellen: Der erste Satz zählt

Basierend auf deinen Beobachtungen kannst du nun das Gespräch eröffnen. Wichtig ist hierbei, nicht wertend oder anklagend zu sein. Formuliere deine Wahrnehmung als eine offene Einladung zum Gespräch. Die Beispiele aus dem zugrundeliegenden Transkript sind hierfür ideal:  

  • „Mir ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit sehr nachdenklich wirkst. Magst du darüber reden?“
  • „Ich sehe, dass du heute sehr angespannt bist. Was kann ich für dich tun?“
  • „Ich merke, dir geht es gerade nicht gut.“

Solche Sätze sind kraftvoll, weil sie nicht nach dem „Problem“ fragen, sondern deine Wahrnehmung und dein Interesse spiegeln. Du sagst damit: „Ich sehe dich. Ich nehme dich in deiner Not wahr.“ Allein dieser Akt des Gesehenwerdens kann für einen jungen Menschen, der sich unsichtbar fühlt, eine immense Erleichterung sein.

Phase 2: VERSTEHEN – Neugierig die Welt des Lehrlings betreten

Wenn die erste Kontaktaufnahme gelungen ist und dein Lehrling Bereitschaft signalisiert, sich zu öffnen, beginnt die Phase des Verstehens. Hier wechselst du von der passiven Beobachtung zur aktiven Erkundung. Dein Ziel ist es nicht, die Situation zu bewerten oder zu analysieren, sondern die innere Welt deines Gegenübers so gut wie möglich zu verstehen. Du wirst zum neugierigen Forscher, der eine fremde Landkarte erkundet. Das zentrale Werkzeug dafür ist das aktive Zuhören.

Die Techniken des aktiven Zuhörens

Aktives Zuhören ist eine Fähigkeit, die man trainieren kann. Es geht darum, dem Sprecher zu zeigen, dass du nicht nur die Worte hörst, sondern auch versuchst, die dahinterliegenden Gefühle und Bedeutungen zu erfassen. 

  • Offene Fragen stellen: Vermeide Fragen, die nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können. Nutze stattdessen offene Fragen, die zum Erzählen einladen. Der Schlüsselsatz aus dem Webinar ist hier dein bester Freund: „Magst du mir ein bisschen mehr darüber erzählen?“.Weitere kraftvolle Fragen sind:  
    • „Was geht dir dabei durch den Kopf?“ 
    • „Wie fühlt sich das für dich an?“ 
    • „Was ist das Schlimmste daran für dich?“
  • Paraphrasieren (In eigenen Worten wiederholen): Um sicherzustellen, dass du alles richtig verstanden hast und um deinem Gegenüber zu zeigen, dass du aufmerksam bist, fasse das Gehörte in deinen eigenen Worten zusammen. Das kann so klingen: „Okay, wenn ich dich richtig verstehe, dann fühlst du dich im Team ausgegrenzt, weil bei den Pausengesprächen niemand mit dir redet. Habe ich das so richtig erfasst?“.Diese Technik ist unglaublich wirksam, um Missverständnisse zu vermeiden, die laut Studien durch aktives Zuhören um bis zu 40 % reduziert werden können. 
  • Gefühle benennen und normalisieren: Oft fühlen sich junge Menschen von ihren eigenen Emotionen überrollt und können sie kaum in Worte fassen. Hier kannst du helfen, indem du eine Vermutung äußerst: „Das klingt, als wärst du unglaublich enttäuscht und auch ein bisschen wütend. Kann das sein?“ Manchmal ist es auch hilfreich, die Reaktion zu normalisieren und damit die Scham zu reduzieren: „Das, was du beschreibst, kennen viele Menschen in deiner Situation. Es ist verständlich, dass du dich so fühlst.“. 
  • Pausen aushalten: Das ist vielleicht eine der schwierigsten, aber auch wichtigsten Techniken. Wenn eine Stille im Gespräch entsteht, ist unser Impuls oft, sie schnell zu füllen. Widerstehe diesem Drang. Schweigen ist nicht leer. Es ist wertvolle Zeit, in der dein Lehrling nachdenkt, Gefühle verarbeitet oder den Mut für den nächsten Satz sammelt. Deine Fähigkeit, die Stille mit ihm gemeinsam auszuhalten, signalisiert Geduld und Respekt. 

Hinter diesen einfachen Techniken verbergen sich tiefgreifende psychologische Prinzipien. Was du in der „Verstehen“-Phase tust, ist im Grunde eine alltagstaugliche Anwendung von Methoden aus der klientenzentrierten Therapie von Carl Rogers, die auf Empathie und bedingungsloser positiver Zuwendung basiert, sowie der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg, die darauf abzielt, die Gefühle und Bedürfnisse hinter den Worten zu erkennen.Du musst kein Therapeut sein, um diese Prinzipien anzuwenden. Du musst nur bereit sein, wirklich zuzuhören.  

Phase 3: AKZEPTIEREN – Das emotionale Fundament, auf dem alles aufbaut

Dies ist die entscheidende Phase. Sie ist das Herzstück des gesamten Prozesses und der Moment, der über Vertrauen oder Distanz entscheidet. Akzeptieren bedeutet, die Gefühle und die subjektive Realität deines Lehrlings als gültig und legitim anzuerkennen. Das ist ein entscheidender Punkt: Du musst nicht mit seiner Interpretation der Fakten einverstanden sein, aber du musst seine Gefühle als real anerkennen. Es geht darum, die Botschaft zu senden: „Ich glaube dir, dass es sich für dich so anfühlt. Und das ist in Ordnung.“

Die Macht der Validierung

In dieser Phase tritt die „Wertschätzung“ (Validation), die im Webinar so stark betont wird, in den Vordergrund.Es ist der bewusste Gegenentwurf zu den gut gemeinten, aber oft verletzenden Beschwichtigungen, die junge Menschen so oft hören:  

  • „Das wird schon wieder.“
  • „So schlimm ist das doch gar nicht.“
  • „Reiß dich zusammen.“
  • „In deinem Alter hat man doch keine echten Probleme.“

Solche Sätze sprechen dem Gegenüber seine Gefühle ab. Sie sagen im Subtext: „Dein Gefühl ist falsch oder übertrieben.“ Validierung tut das genaue Gegenteil. Sie sagt: „Dein Gefühl ist richtig, denn es ist deins. Es darf da sein.“

  • „Das klingt unglaublich hart. Ich kann mir vorstellen, dass das furchtbar weh tut.“
  • „Kein Wunder, dass du da wütend bist. Das ist eine total unfaire Situation.“
  • „Es ist absolut verständlich, dass du dich überfordert fühlst. Das ist auch eine Menge, was da gerade auf dich zukommt.“

Eine Lektion aus der Praxis: Die Geschichte zweier Gespräche

Nichts verdeutlicht die Macht dieser Phase besser als eine persönliche Anekdote, die eine erfahrene Psychologin in dem Webinar teilte.Diese Geschichte ist der ultimative Beweis für das Konzept dieses Artikels.  

Das „gescheiterte“ Gespräch: Die Psychologin, eine Expertin mit jahrelanger Erfahrung, führte ein Telefonat mit einer jungen Frau, die in einer tiefen Krise steckte. Während die Frau ihre Probleme schilderte, sprudelten bei der Psychologin bereits die „super“ Lösungsideen. Sie war ungeduldig und präsentierte einen Vorschlag nach dem anderen. Das Ergebnis? Das Gespräch drehte sich endlos im Kreis. Die junge Frau blockte alles ab, nahm keine der Lösungen an und am Ende legten beide frustriert auf. Die Psychologin hatte versucht, die Phase des „Veränderns“ zu erzwingen, bevor sie überhaupt richtig verstanden und akzeptiert hatte.

Das „erfolgreiche“ Gespräch: Einige Wochen später rief dieselbe junge Frau erneut an. Diesmal landete sie bei einem Praktikanten. Dieser hatte die Geschichte des gescheiterten Gesprächs gehört und sich die Lektion zu Herzen genommen. Er tat das genaue Gegenteil seiner Mentorin: Er verlangsamte das Gespräch bewusst. Er stellte keine Lösungsfragen, sondern gab der Frau Raum, ihr Problem in all seinen Facetten zu „bewundern“. Er konzentrierte sich ausschließlich darauf, ihre Not zu sehen, zu verstehen und ihre Gefühle zu akzeptieren. Das Resultat war, wie er strahlend berichtete, ein „großartiges Gespräch“. Die Anruferin war am Ende glücklich, dankbar und – jetzt kommt der entscheidende Punkt – plötzlich vollkommen offen für Veränderungsvorschläge.

Diese Geschichte enthüllt ein zentrales Paradox des Helfens: Um Veränderung zu ermöglichen, müssen wir zuerst die Situation, so wie sie ist, radikal akzeptieren. Der Versuch, Gefühle schnell „wegzumachen“, erzeugt Widerstand. Die Bereitschaft, schwere Gefühle gemeinsam mit jemandem auszuhalten, schafft Sicherheit und öffnet die Tür für neue Wege. Wenn ein Mensch in Not ist, ist sein emotionales Gehirn hochaktiv. Lösungsvorschläge sind ein kognitiver Akt, der vom emotionalen System als Bedrohung oder als Abwertung des eigenen Leidens empfunden werden kann. Akzeptanz hingegen ist ein emotionaler Akt der Verbindung. Er co-reguliert das Nervensystem, lindert das Gefühl der Einsamkeit und schafft erst die psychische Kapazität, über Lösungen nachzudenken. Die Veränderung geschieht, weil der Druck zur Veränderung weggenommen wurde.

Phase 4: VERÄNDERN – Gemeinsam Wege finden, statt Lösungen diktieren

Wenn du die ersten drei Phasen – Sehen, Verstehen, Akzeptieren – sorgfältig durchlaufen hast, wirst du etwas Erstaunliches feststellen: Die vierte Phase, das Verändern, wird oft zur einfachsten und manchmal sogar überflüssigsten. Sie ist, wie im Webinar betont, der „unwichtigste“ Teil des Prozesses, weil sie sich oft organisch aus dem geschaffenen Vertrauen ergibt.Wenn sich ein Lehrling wirklich verstanden und akzeptiert fühlt, beginnt er oft von selbst, nach Wegen zu suchen. Deine Rolle ist hier nicht die des Experten, der die Lösung diktiert, sondern die des Coaches, der zur Selbsthilfe ermächtigt. 

Von der Vorschrift zur Ermächtigung

Dein Ziel ist es, die inneren Ressourcen deines Lehrlings zu aktivieren. Statt ihm zu sagen, was er tun soll, hilfst du ihm, seine eigenen Antworten zu finden. Das stärkt sein Selbstvertrauen und seine Problemlösekompetenz weitaus nachhaltiger als jeder von außen gegebene Ratschlag.

Dein Werkzeugkasten: Ressourcenorientierte Fragen

Hier ist eine Sammlung kraftvoller Fragen, die den Fokus von der Hilflosigkeit auf die Handlungsfähigkeit lenken. Viele davon stammen direkt aus der Praxis des Webinars:  

  • Fragen zur Aktivierung eigener Ideen:
    • „Was hast du denn selber schon überlegt, was du tun könntest?“
    • „Überlegen wir mal gemeinsam, was gäbe es denn da für Möglichkeiten? Was fällt dir denn ein?“
  • Fragen zum Perspektivwechsel (extrem wirkungsvoll):
    • „Stell dir vor, deine beste Freundin oder dein bester Freund hätte genau dieses Problem. Was würdest du ihr oder ihm raten?“ (Diese Frage schafft eine emotionale Distanz und macht es leichter, klare Lösungen zu sehen).
  • Fragen zur Aktivierung vergangener Erfolge:
    • „Gab es in der Vergangenheit schon einmal eine ähnliche Situation, die du gemeistert hast? Was hat dir damals geholfen?“
  • Die „Wunderfrage“ (ein Klassiker aus der systemischen Beratung):
    • „Stell dir vor, du gehst heute Abend schlafen und über Nacht geschieht ein Wunder: Dein Problem ist einfach weg. Woran würdest du morgen früh als Allererstes merken, dass das Wunder geschehen ist?“ (Diese Frage hilft, einen positiven Zielzustand zu definieren und daraus kleine, konkrete erste Schritte abzuleiten).

Das Unveränderbare akzeptieren

Manchmal ist die wichtigste Veränderung die Erkenntnis, dass sich eine Situation im Moment nicht ändern lässt. Ein schwieriges Elternhaus, eine chronische Erkrankung, ein abgeschlossener Lehrvertrag in einem ungeliebten Bereich. Hier besteht die „Veränderung“ darin, dem Lehrling zu helfen, diese Realität anzunehmen und Strategien zum Umgang damit zu entwickeln. Das Gespräch kann sich dann darauf konzentrieren, die Situation als zeitlich begrenzt zu sehen („Noch zwei Jahre, dann bist du 18 und kannst ausziehen“) und Kraftquellen zu finden, um diese Zeit durchzustehen. 

Vom Einzelgespräch zur Unternehmenskultur: Dein enormer Einfluss als Vorbild

Wenn du dieses Vier-Phasen-Modell anwendest, tust du weit mehr, als nur ein einzelnes Krisengespräch zu führen. Du wirst zu einer treibenden Kraft, die die gesamte Kultur in deinem Ausbildungsbereich positiv verändern kann. Deine Art der Kommunikation hat einen Welleneffekt, der weit über den Moment hinausreicht.

Die Kraft des gelebten Vorbilds

Jedes Mal, wenn du einem Lehrling mit Empathie und Geduld begegnest, wirst du zu einem „guten Vorbild“.Junge Menschen lernen durch Beobachtung. Sie sehen, wie du mit Konflikten umgehst, wie du auf emotionale Not reagierst, und sie lernen daraus, was gesunde, respektvolle Kommunikation bedeutet. Sie lernen, dass es in Ordnung ist, über Schwierigkeiten zu sprechen, und dass Verletzlichkeit auf Verständnis statt auf Ablehnung stößt.  

Du schaffst psychologische Sicherheit

Indem du diesen Ansatz praktizierst, baust du aktiv ein Umfeld der psychologischen Sicherheit auf. Das ist ein Klima, in dem sich Lehrlinge trauen, Fehler zuzugeben, um Hilfe zu bitten und auch über ihre psychische Gesundheit zu sprechen, ohne Angst vor Stigmatisierung oder negativen Konsequenzen haben zu müssen. Dies wirkt direkt der Tabuisierung von psychischen Problemen entgegenund kann negative Entwicklungen wie Mobbing im Keim ersticken.Du wirst zu genau jener „verlässlichen und die Resilienz fördernden Bezugsperson“, die in Studien als entscheidender Schutzfaktor für die psychische Gesundheit von Lehrlingen identifiziert wird. 

Die Investition in deine empathischen Kommunikationsfähigkeiten ist somit eine der wirksamsten Investitionen in das Humankapital deines Unternehmens. Die Kosten, die durch Lehrabbrüche, geringe Motivation, Konflikte am Arbeitsplatz und krankheitsbedingte Ausfälle entstehen, sind enorm. Ein Ausbilder, der das S-V-A-V-Modell beherrscht, kann Konflikte deeskalieren, gefährdete Lehrlinge unterstützen, bevor sie den Halt verlieren, und ein Gefühl der Zugehörigkeit und Loyalität fördern.Dies führt nicht nur zu höheren Abschlussquoten und einer besseren Teamdynamik, sondern macht den Betrieb auch zu einem attraktiveren Arbeitgeber im Wettbewerb um die besten Nachwuchskräfte. Deine individuelle Fähigkeit hat einen messbaren, positiven Einfluss auf das gesamte System.  

Zusammenfassung: Dein Weg zur meisterhaften Gesprächsführung

Wir haben einen weiten Bogen geschlagen – von der instinktiven Lösungs-Falle bis hin zu einem tiefgreifenden Modell für empathische Krisenkommunikation. Lass uns die wichtigsten Punkte noch einmal zusammenfassen:

Der Schlüssel zu wirkungsvollen Gesprächen liegt nicht darin, die schnellste Lösung zu finden, sondern darin, dem Problem mit Neugier und Akzeptanz zu begegnen – es regelrecht zu „bewundern“.

Der S-V-A-V-Kompass gibt dir dabei eine klare Orientierung:

  1. Sehen: Nimm deinen Lehrling bewusst und ganzheitlich wahr. Schaffe einen sicheren Rahmen und zeige durch deine Präsenz: „Ich sehe dich.“
  2. Verstehen: Höre aktiv zu, stelle offene Fragen und erkunde die Welt deines Gegenübers ohne Urteil. Zeige: „Ich will dich verstehen.“
  3. Akzeptieren: Validiere die Gefühle deines Lehrlings als echt und legitim. Das ist das emotionale Fundament, das Vertrauen schafft und Widerstände abbaut. Zeige: „Es ist okay, dass du dich so fühlst.“
  4. Verändern: Begleite deinen Lehrling dabei, seine eigenen Ressourcen und Lösungen zu finden, anstatt ihm welche vorzugeben. Zeige: „Ich traue dir zu, deinen Weg zu finden.“

Diese Phasen sind keine starre Abfolge, sondern ein dynamischer Tanz. Du wirst oft zwischen den Phasen hin- und herspringen, besonders zwischen dem Verstehen und dem Akzeptieren. Das ist normal und richtig so.

Die emotionale Arbeit, die dieser Ansatz von dir verlangt, ist nicht zu unterschätzen. Aber sie ist auch eine der lohnendsten Facetten deiner Rolle als Ausbilder. Denn wenn du einem jungen Menschen das Gefühl gibst, wirklich gesehen, verstanden und akzeptiert zu werden, gibst du ihm nicht nur eine Hilfestellung in einer akuten Krise. Du gibst ihm ein Geschenk, das sein ganzes Leben prägen kann: die Erfahrung, dass er wertvoll ist, genau so, wie er ist. Und das ist eine Macht, die weit über alle Worte hinausgeht.