Wenn die Lehre aus dem Ruder läuft: Ein Rechtsratgeber zu Fehlverhalten und Kündigung

Wenn die Lehre aus dem Ruder läuft: Ein Rechtsratgeber zu Fehlverhalten und Kündigung
Photo by Igor Omilaev / Unsplash

Du investierst Zeit, Energie und oft auch eine Menge Herzblut in die Ausbildung deiner Lehrlinge. Du siehst sie wachsen, sich entwickeln und zu wertvollen Mitgliedern deines Teams werden. Doch was tust du, wenn die Entwicklung eine falsche Abbiegung nimmt? Wenn ein Lehrling die Grenzen nicht nur testet, sondern massiv überschreitet?

Ein Lehrverhältnis ist mehr als nur ein Job. Es ist ein gesetzlich geschütztes Ausbildungsverhältnis, bei dem der Fokus auf der Entwicklung des jungen Menschen liegt. Genau deshalb ist eine vorzeitige Auflösung des Lehrvertrags durch dich als Ausbilder:in eine extrem hohe Hürde. Es ist eine absolute Ultima Ratio, ein letzter Ausweg für Situationen, die so gravierend sind, dass eine Fortsetzung der Ausbildung unzumutbar wird.

Dieser Artikel ist dein rechtlicher Kompass für stürmische Zeiten. Wir werden gemeinsam die trockene Juristensprache des Berufsausbildungsgesetzes (BAG) entschlüsseln, uns echte Gerichtsentscheidungen ansehen und dir einen konkreten Fahrplan an die Hand geben, wie du in den schwierigsten Situationen rechtssicher und professionell handelst. Von strafbaren Handlungen über wiederholtes Zuspätkommen bis hin zu fragwürdigen Social-Media-Posts – hier findest du die Antworten, die du brauchst, um dich und dein Unternehmen zu schützen.

Die hohe Hürde der vorzeitigen Auflösung: Was §15 BAG für dich bedeutet

Das Herzstück aller Regelungen zur vorzeitigen Beendigung eines Lehrverhältnisses ist der $§ 15$ des Berufsausbildungsgesetzes (BAG). Dieser Paragraph ist dein einziges rechtliches Werkzeug, wenn du als Lehrberechtigte:r eine Auflösung in Betracht ziehst. Das Wichtigste, was du hier verstehen musst: Anders als bei einem normalen Arbeitsverhältnis gibt es nach der Probezeit keine Möglichkeit einer ordentlichen Kündigung mit Frist. Du kannst nicht einfach kündigen, weil die Leistung nicht passt oder die "Chemie" nicht stimmt.

Du benötigst einen der im Gesetz taxativ aufgezählten, schwerwiegenden Gründe. "Taxativ" ist ein juristischer Begriff und bedeutet "abschließend". Das heißt, nur die Gründe, die explizit in $§ 15$ Abs. 3 BAG stehen, sind gültig – keine anderen. Diese gesetzliche Regelung errichtet bewusst einen hohen "Schutzwall" um das Lehrverhältnis. Die dahinterstehende Philosophie ist klar: Die Ausbildung soll geschützt und gefördert werden und nicht wegen kleinerer Probleme leichtfertig beendet werden können. Eine vorzeitige Auflösung ist nur dann möglich, wenn das Verhalten des Lehrlings so gravierend ist, dass es diesen Schutzwall durchbricht und die Vertrauensbasis, die für eine erfolgreiche Ausbildung unerlässlich ist, unwiderruflich zerstört.

Die häufigsten und wichtigsten Auflösungsgründe aus $§ 15$ Abs. 3 BAG für dich als Ausbilder:in sind:

  • Strafbare Handlungen (§15 Abs. 3 lit a BAG): Wenn der Lehrling einen Diebstahl, eine Veruntreuung oder eine andere strafbare Handlung begeht, die ihn des Vertrauens unwürdig macht.
  • Beleidigungen und Drohungen (§15 Abs. 3 lit b BAG): Wenn der Lehrling dich, deine Angehörigen oder andere Betriebsangehörige tätlich angreift, erheblich beleidigt oder gefährlich bedroht.
  • Beharrliche Pflichtverletzung (§15 Abs. 3 lit c BAG): Wenn der Lehrling trotz wiederholter Ermahnungen seine Pflichten aus dem Lehrvertrag oder dem Gesetz (z.B. Berufsschulpflicht) verletzt oder vernachlässigt.
  • Verrat von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen (§15 Abs. 3 lit d BAG): Wenn der Lehrling vertrauliche Informationen weitergibt oder für eigene Zwecke missbraucht.

Um dir einen schnellen und praxisnahen Überblick zu verschaffen, haben wir diese Gründe in einer Tabelle zusammengefasst:

Grund (laut Gesetz)

Was bedeutet das in der Praxis?

Wichtig für dich als Ausbilder:in

Strafbare Handlung / Vertrauensunwürdigkeit

Diebstahl, Betrug, Unterschlagung im Betrieb. Aber auch schwere Straftaten in der Freizeit können relevant sein, wenn sie das Vertrauen für die Ausbildung zerstören (z.B. Drogenhandel).

Erfordert oft sofortiges Handeln! Der Unverzüglichkeitsgrundsatz ist hier entscheidend. Du musst Beweise sichern und darfst nicht zögern.

Beleidigungen / Drohungen

Hier geht es nicht um eine flapsige Bemerkung. Die Beleidigung muss "erheblich" oder die Drohung "gefährlich" sein. Ein tätlicher Angriff ist immer ein Grund.

Die Schwere des Vorfalls ist entscheidend. Dokumentiere den Vorfall und die Aussagen von Zeugen sofort und im Detail.

Beharrliche Pflichtverletzung

Das klassische Beispiel ist ständiges Zuspätkommen. Wichtig ist das Wort "beharrlich": Es geht um ein wiederholtes Fehlverhalten, nicht um einen einmaligen Fehler.

Hier ist ein mehrstufiger Prozess zwingend erforderlich: Gespräch, schriftliche Verwarnungen und die klare Androhung der Konsequenzen. Ohne diesen Prozess ist eine Auflösung fast unmöglich.

Verrat von Geschäftsgeheimnissen

Die Weitergabe von Kundenlisten, Preisen, internen Strategien oder technischen Details – besonders über Social Media.

Die Sensibilität der Information ist entscheidend. Du musst nachweisen können, dass es sich um ein schützenswertes Geheimnis handelt und der Lehrling dies wusste.

Diese gesetzlichen Hürden sind hoch, aber sie sind nicht unüberwindbar. Sie verlangen von dir als Ausbilder:in ein professionelles, dokumentiertes und überlegtes Vorgehen. Die folgenden Abschnitte zeigen dir anhand von echten Fällen aus der Praxis, wie du diese Prinzipien anwendest und welche Fehler du unbedingt vermeiden musst.

Wenn es ernst wird: Schwerwiegendes Fehlverhalten und die Konsequenzen

Manche Verfehlungen sind so gravierend, dass sie das Lehrverhältnis an seinen Grundfesten erschüttern. Hier geht es nicht mehr um pädagogische Maßnahmen, sondern um schnelles und entschlossenes Handeln. Doch gerade hier lauern die größten rechtlichen Fallstricke.

Strafbare Handlungen und der fatale Fehler des Zögerns

Der Auflösungsgrund der "strafbaren Handlung" nach $§ 15$ Abs. 3 lit a BAG ist einer der schärfsten im Gesetz. Er greift, wenn ein Lehrling eine Tat begeht, die ihn "des Vertrauens des Lehrberechtigten unwürdig macht". Das kann ein Diebstahl im Betrieb sein, aber auch eine Handlung im Privatleben, die eine direkte, negative Auswirkung auf das Lehrverhältnis hat.

Doch einen solchen Grund zu haben, ist nur die halbe Miete. Die andere, oft entscheidende Hälfte ist, wie du darauf reagierst. Hier kommt der Unverzüglichkeitsgrundsatz ins Spiel. Dieser Grundsatz besagt, dass du eine vorzeitige Auflösung "ohne schuldhaftes Zögern" aussprechen musst, sobald du von dem schwerwiegenden Grund erfahren hast. Wenn eine Situation wirklich so unzumutbar ist, dass eine Fortsetzung der Lehre auch nur für einen Tag nicht mehr denkbar ist, dann musst du auch so handeln – nämlich sofort. Zuwarten wird von den Gerichten als Verzicht auf das Auflösungsrecht interpretiert. Nach dem Motto: "So schlimm kann es ja nicht gewesen sein, wenn du wochenlang nichts unternommen hast."

Ein Fall aus der Gerichtspraxis illustriert diesen Punkt auf dramatische Weise:

Fallbeispiel aus der Praxis: Der Drogenhandel-Fall und das verwirkte Recht

Ein Lehrling in einem größeren Unternehmen geriet in den Verdacht, mit Drogen zu handeln, und kam für mehrere Monate in Untersuchungshaft. Als die Details ans Licht kamen – es handelte sich nicht nur um Konsum, sondern um Handel – war für das Unternehmen klar, dass eine Weiterbeschäftigung unmöglich war. Man sah die Fürsorgepflicht gegenüber den anderen Lehrlingen gefährdet und das Vertrauensverhältnis als zerstört an. Der Auflösungsgrund war also eindeutig gegeben.

Doch dann passierte der entscheidende Fehler: Anstatt die Auflösung sofort auszusprechen, wollte man dem Lehrling eine "Brücke bauen". Man bot ihm eine einvernehmliche Auflösung an. Dieses Angebot wurde am letzten Arbeitstag des zuständigen Ausbildners vor dessen zweiwöchigem Urlaub unterbreitet. Man gab dem Lehrling Bedenkzeit bis nach dem Urlaub. Der Lehrling lehnte die einvernehmliche Lösung ab (da sein Verbleib im Lehrverhältnis eine Bedingung für die Aufhebung der U-Haft war), woraufhin das Unternehmen die vorzeitige Auflösung aussprach.

Das Ergebnis vor Gericht war für das Unternehmen verheerend. Das Gericht bestätigte zwar, dass der Grund für die Auflösung absolut gerechtfertigt gewesen wäre. Aber das Unternehmen hatte sein Recht darauf verwirkt, weil es zu lange gezögert hatte. Die zwei Wochen Urlaub des Ausbildners und die eingeräumte Bedenkzeit waren zu lang. Das Gericht argumentierte, dass in einem großen Unternehmen eine andere Person hätte handeln müssen. Das Unternehmen musste dem Lehrling die Lehrlingsentschädigung für die gesamte restliche Lehrzeit inklusive der gesetzlichen Behaltepflicht nachzahlen – ein teurer Fehler.

Dieser Fall ist mehr als nur eine juristische Lektion; er ist ein Stresstest für deine Organisation. Der Unverzüglichkeitsgrundsatz verlangt, dass dein Unternehmen auf solche Notfälle vorbereitet ist. Es muss einen klaren und dokumentierten Prozess geben: Wer ist dein:e Stellvertreter:in? Wer hat die Befugnis zu handeln, wenn du nicht da bist? Eine fehlende Planung für solche Szenarien ist genau das, was das Gesetz als "schuldhaftes Zögern" wertet. Es geht also nicht nur um deine individuelle Reaktion, sondern um die systemische Vorbereitung deines Betriebs.

Online-Fehltritte mit realen Konsequenzen

In einer Welt, in der das Private immer öfter öffentlich wird, verschwimmen auch die Grenzen zwischen Freizeit und Beruf. Ein unbedachtes Posting auf Facebook, Instagram oder TikTok kann schnell zu einem handfesten Problem im Lehrverhältnis werden. Gerichte haben klar bestätigt, dass auch private Online-Aktivitäten eine vorzeitige Auflösung rechtfertigen können, wenn eine bestimmte Schwelle überschritten wird.

Der entscheidende Faktor ist hierbei der "Nexus" – die Verbindung zum Lehrverhältnis. Je klarer ein Lehrling mit deinem Unternehmen in Verbindung gebracht werden kann und je größer der potenzielle Schaden für dein Unternehmen ist, desto eher ist eine Auflösung gerechtfertigt.

Fallbeispiel: Das „Flammenwerfer“-Posting

Ein Lehrling eines bekannten Automobilunternehmens postete auf seinem öffentlichen Facebook-Profil einen menschenverachtenden, rassistischen Kommentar. Er schrieb unter das Foto eines Flüchtlingskindes, das sich über eine Wasserdusche freute, man hätte besser einen Flammenwerfer auf das Kind richten sollen. Auf seinem Profil war klar ersichtlich, wo er seine Lehre absolvierte.

Das Unternehmen löste das Lehrverhältnis sofort auf. Es argumentierte, dass ein solches Verhalten den Werten des Unternehmens fundamental widerspricht und extrem rufschädigend ist. Das Gericht gab dem Unternehmen Recht. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass das Posting so schwerwiegend war und die öffentliche Assoziation mit dem Unternehmen so schädlich, dass eine Fortsetzung der Ausbildung unzumutbar war.

Dieses Urteil zeigt, dass es eine Grenze gibt, an der die Meinungsfreiheit endet und die Loyalitätspflicht gegenüber dem Arbeitgeber beginnt. Die rechtliche Bewertung hängt dabei von einer Reihe von Faktoren ab:

  1. Öffentlichkeit und Identifizierbarkeit: War das Posting öffentlich sichtbar? Konnte man den Lehrling als Mitarbeiter deines Unternehmens identifizieren?
  2. Schwere des Inhalts: Handelt es sich um eine massive Ehrverletzung, eine Drohung, eine rassistische oder diskriminierende Aussage?
  3. Potenzieller Schaden: Ist das Posting geeignet, den Ruf deines Unternehmens zu schädigen, Kunden zu verprellen oder den Betriebsfrieden zu stören?

Ein ähnliches Prinzip gilt beim Verrat von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen über soziale Medien, was einen klaren Auflösungsgrund nach $§ 15$ Abs. 3 lit d BAG darstellt. Stell dir vor, ein Lehrling postet scherzhaft ein Foto von einer neuen, noch geheimen Produktentwicklung oder macht sich, wie in einem anderen bekannten Fall eines Bankangestellten, auf Facebook über einen internen Sicherheitsvorfall lustig, bei dem Geld verschwunden war. Auch hier wurde die Auflösung vom Gericht bestätigt. Der Grund: Solche Informationen, auch wenn sie flapsig geteilt werden, untergraben das Kernvertrauen und können einen immensen Reputations- und Finanzschaden verursachen.

Es ist jedoch wichtig zu differenzieren. Ein "Like" für einen kontroversen Beitrag oder die Verwendung eines Zwinker-Smileys wird von den Gerichten in der Regel weniger streng bewertet als ein proaktiv verfasster, eigener Hasskommentar. Ersteres wird oft als spontane Meinungsbestätigung ohne tiefere Überlegung gesehen, während Letzteres eine bewusste Meinungsäußerung darstellt.

Für dich als Ausbilder:in bedeutet das, dass du Teil einer umfassenderen Unternehmensstrategie sein musst. Es braucht klare Social-Media-Richtlinien und eine proaktive Schulung aller Mitarbeiter, einschließlich der Lehrlinge, über die realen Konsequenzen ihres Online-Verhaltens.

Die "kleineren" Sünden: Professioneller Umgang mit beharrlicher Pflichtverletzung

Nicht jedes Fehlverhalten ist ein Paukenschlag, der das Lehrverhältnis sofort zerstört. Viel häufiger hast du es mit wiederkehrenden, zermürbenden Problemen zu tun: ständiges Zuspätkommen, unentschuldigtes Fehlen in der Berufsschule oder die wiederholte Missachtung von Arbeitsanweisungen. Hier greift der Auflösungsgrund der beharrlichen Pflichtverletzung nach $§ 15$ Abs. 3 lit c BAG.

Das Schlüsselwort hier ist "beharrlich". Das Gesetz und die Gerichte sind sich einig: Ein einmaliger Fehler, ein einmaliges Verschlafen, rechtfertigt niemals eine vorzeitige Auflösung. Es muss ein klares Muster von Fehlverhalten vorliegen, das sich fortsetzt, obwohl du den Lehrling darauf aufmerksam gemacht und ihm die Chance zur Besserung gegeben hast.

Eine Auflösung aus diesem Grund ist daher kein einzelner Akt, sondern das Ende eines klar strukturierten, eskalierenden Prozesses. Ein Gericht wird immer prüfen, ob du als Ausbilder:in deiner pädagogischen Verantwortung nachgekommen bist, bevor du zur härtesten arbeitsrechtlichen Konsequenz gegriffen hast. Dieser Prozess hat eine doppelte Funktion: rechtlich baust du damit den notwendigen Beweis für die "Beharrlichkeit" auf. Pädagogisch gibst du dem Lehrling eine faire und reale Chance, sein Verhalten zu korrigieren.

Dieser Eskalationsprozess muss von dir lückenlos dokumentiert werden und sieht typischerweise so aus:

Stufe 1: Das erste Gespräch Sobald ein Problem wie wiederholtes Zuspätkommen auftritt, führe ein direktes, persönliches Gespräch unter vier Augen (bzw. besser zu dritt, mit einem Zeugen deinerseits).

  • Ziel: Das Problem klar ansprechen, die Erwartungen formulieren und die Ursachen ergründen. Vielleicht gibt es private Probleme, von denen du nichts weißt.
  • Dokumentation: Erstelle eine kurze, datierte Gesprächsnotiz: Wer war anwesend? Was wurde besprochen? Welche Vereinbarungen wurden getroffen?

Stufe 2: Die erste schriftliche Verwarnung (Abmahnung) Wenn das Fehlverhalten trotz des Gesprächs andauert, ist der nächste Schritt eine formelle, schriftliche Verwarnung. Diese ist kein "Denkzettel", sondern ein wichtiges juristisches Dokument.

  • Inhalt:
    1. Konkrete Beschreibung des Fehlverhaltens: Nenne exakte Daten und Uhrzeiten. Statt "Du kommst oft zu spät" schreibe "Am 5.10., 7.10. und 12.10. bist du jeweils zwischen 15 und 25 Minuten zu spät zur Arbeit erschienen."
    2. Aufforderung zur Verhaltensänderung: Formuliere klar, welches Verhalten du in Zukunft erwartest. "Wir fordern dich auf, ab sofort pünktlich zu Arbeitsbeginn um 8:00 Uhr zu erscheinen."
    3. Dokumentation: Lass dir den Erhalt der Verwarnung vom Lehrling mit Datum und Unterschrift bestätigen. Weigert er sich, vermerke dies mit einem Zeugen auf dem Dokument.

Stufe 3: Die letzte Verwarnung mit Androhung der Konsequenzen Setzt der Lehrling sein Fehlverhalten auch nach der ersten schriftlichen Verwarnung fort, folgt die zweite und letzte Verwarnung. Diese ist inhaltlich ähnlich wie die erste, enthält aber einen entscheidenden, rechtlich zwingenden Zusatz:

  • Inhalt: Zusätzlich zu den Punkten aus Stufe 2 muss diese Verwarnung die unmissverständliche Androhung der Konsequenzen enthalten. Formuliere klar und deutlich: "Dies ist unsere letzte Verwarnung. Solltest du erneut deine Pflichten in dieser Weise verletzen, musst du mit der vorzeitigen Auflösung des Lehrverhältnisses rechnen."
  • Bedeutung: Ohne diese explizite Androhung ist eine spätere Auflösung wegen beharrlicher Pflichtverletzung rechtlich extrem wackelig. Der Lehrling muss nachweislich gewusst haben, was auf dem Spiel steht.

Nur wenn der Lehrling nach diesem dreistufigen, lückenlos dokumentierten Prozess erneut eine gleichartige Pflichtverletzung begeht, hast du eine solide rechtliche Grundlage für eine vorzeitige Auflösung. Jeder fehlende Schritt in dieser Kette schwächt deine Position massiv. Sieh diesen Prozess also nicht als Bestrafung, sondern als ein professionelles Interventionsprotokoll, das Fairness gewährleistet und deine Handlungen rechtlich absichert.

Sonderfall Krankenstand: Partyfotos statt Bettruhe?

Kaum ein Thema ist emotional so aufgeladen wie der Verdacht auf Krankenstandsmissbrauch. Ein Lehrling meldet sich mit Grippe krank und am selben Abend siehst du auf Instagram Fotos von einer Party. Der erste Impuls ist oft Wut und das Gefühl, betrogen worden zu sein. Doch bevor du handelst, atme tief durch. Arbeitsrechtlich ist die Situation weitaus komplexer, als es den Anschein hat.

Dein subjektives Gefühl des Betrugs ist vor Gericht leider völlig irrelevant. Die einzige rechtliche Messlatte ist, ob der Lehrling ein sogenanntes "genesungsschädliches Verhalten" an den Tag gelegt hat. Das bedeutet, er oder sie muss etwas getan haben, das nachweislich den Heilungsprozess verzögert.

Die entscheidende Frage ist also nicht "Darf ein kranker Lehrling das Haus verlassen?", sondern "War dieses spezifische Verhalten schädlich für diese spezifische Krankheit?". Und hier wird es kompliziert:

  • Es kommt auf die Krankheit an: Das Gesetz unterscheidet sehr genau. Ein Lehrling mit einer schweren Grippe, der eine Partynacht durchfeiert, verhält sich klar genesungsschädlich. Ein Lehrling, der wegen einer Depression krankgeschrieben ist, könnte von sozialen Aktivitäten wie einem Spaziergang mit Freunden oder sogar einem ruhigen Abend im Kino profitieren. In solchen Fällen kann das, was wie ein Verstoß aussieht, tatsächlich Teil der ärztlich empfohlenen Therapie sein.
  • Die Beweislast liegt zu 100 % bei dir: Du musst nicht nur beweisen, DASS der Lehrling auf der Party war. Du musst auch beweisen, dass dieser Partybesuch für seine konkrete Erkrankung (die du oft gar nicht im Detail kennst) schädlich war. Das ist eine extrem hohe Hürde.
  • Ein Foto ist kein Beweis für Missbrauch: Ein Partyfoto allein beweist nichts. War es aktuell? War der Lehrling nur kurz da, um einem Freund zu gratulieren? Hatte er vielleicht nur Wasser getrunken? Ohne weitere Fakten ist ein solches Foto rechtlich fast wertlos.

Ein besonders extremes Beispiel aus der Rechtsprechung verdeutlicht, wie schwierig der Nachweis ist: Ein Arbeitnehmer war wegen starker Rückenprobleme im Krankenstand. Der Arbeitgeber engagierte einen Detektiv, der den Mann dabei fotografierte, wie er einen schweren Anhänger an sein Auto koppelte. Die Auflösung schien sonnenklar. Doch das Gericht holte ein medizinisches Gutachten ein, das zum Schluss kam, dass diese spezifische gebückte Haltung für die Art seiner Rückenprobleme nicht zwingend schädlich war. Der Arbeitgeber verlor den Prozess.

Dieser Fall zeigt die enorme "Informationsasymmetrie", die in solchen Situationen besteht. Der Lehrling und sein Arzt haben alle medizinischen Informationen. Du als Ausbilder:in hast nur einen Verdacht. Das Rechtssystem schützt hier bewusst die Privatsphäre der Gesundheitsdaten und will verhindern, dass Arbeitgeber medizinische Diagnosen stellen, für die sie nicht qualifiziert sind.

Was bedeutet das für dich in der Praxis? Sei extrem vorsichtig. Eine Auflösung, die allein auf einem Social-Media-Posting oder einem Gerücht basiert, ist ein enormes rechtliches Risiko und wird mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Der professionelle Weg ist nicht die sofortige Konfrontation oder Auflösung. Warte, bis der Lehrling wieder gesund ist, und führe dann ein Gespräch über den Vorfall. Dokumentiere dieses Gespräch. Wenn sich solche Vorfälle häufen und ein klares Muster erkennbar wird, ziehe unbedingt einen Rechtsexperten hinzu, bevor du weitere Schritte unternimmst. Alles andere ist ein Ritt auf der Rasierklinge.

Fazit: Deine wichtigste Absicherung – Die lückenlose Dokumentation

Wenn du aus diesem Ratgeber nur eine einzige Sache mitnimmst, dann sollte es diese sein: Dokumentation ist nicht alles, aber ohne Dokumentation ist alles nichts. In jeder schwierigen Situation mit einem Lehrling, bei jedem Konflikt, der potenziell vor Gericht landen könnte, ist eine saubere, lückenlose und zeitnahe Dokumentation deine beste und oft einzige Verteidigung. Sie ist der rote Faden, der deine Professionalität, deine Fairness und die Rechtmäßigkeit deines Handelns beweist.

Ein Richter wird im Streitfall nicht nur den letzten Vorfall betrachten, sondern den gesamten Prozess, der zur Auflösung geführt hat. Er wird fragen: "Was wurde unternommen, um das Problem zu lösen? Wurde der Lehrling gewarnt? Hatte er eine Chance, sein Verhalten zu ändern?" Deine schriftlichen Aufzeichnungen sind die Antworten auf diese Fragen.

Betrachte die Dokumentation nicht als lästige Bürokratie, sondern als dein professionelles Schutzschild. Um dieses Schild so stark wie möglich zu machen, solltest du die folgenden Grundregeln zu einem festen Bestandteil deiner Ausbildungspraxis machen:

  • Gespräche immer zu zweit führen Bei jedem kritischen Gespräch (Leistungsbeurteilung, Verhaltensrüge) sollte von deiner Seite immer eine zweite Person anwesend sein, zum Beispiel ein Kollege aus der Personalabteilung oder ein anderer Ausbilder. Dieser Zeuge ist im Streitfall Gold wert und verhindert, dass Aussage gegen Aussage steht.
  • Alles schriftlich festhalten Führe über jedes dieser Gespräche eine kurze, aber präzise Gesprächsnotiz. Halte Datum, Uhrzeit, die anwesenden Personen, die besprochenen Kritikpunkte und die getroffenen Vereinbarungen fest. Lege diese Notiz in der Personalakte des Lehrlings ab.
  • Klare, schriftliche Verwarnungen aussprechen Nutze für formelle Verwarnungen (Abmahnungen) eine standardisierte Vorlage. Beschreibe das Fehlverhalten sachlich und präzise, formuliere eine klare Erwartungshaltung und lass dir den Erhalt vom Lehrling per Unterschrift bestätigen. Das schafft Verbindlichkeit und Beweisbarkeit.
  • Konsequenzen unmissverständlich androhen Insbesondere bei beharrlichen Pflichtverletzungen ist die explizite Androhung der vorzeitigen Auflösung eine rechtliche Notwendigkeit. Der Lehrling darf später nicht behaupten können, er habe die Ernsthaftigkeit der Lage nicht verstanden.

Wenn du diese Verfahren einhältst, handelst du nicht strafend, sondern professionell. Du bist fair gegenüber dem Lehrling, weil du ihm klare Grenzen und Chancen zur Besserung aufzeigst. Du schützt dein Unternehmen vor teuren rechtlichen Niederlagen. Und du schützt dich selbst, indem du nachweisen kannst, dass du deiner Verantwortung als Ausbilder:in in jeder Phase gerecht geworden bist. Das gibt dir die Sicherheit, auch in den schwierigsten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren und die richtigen Entscheidungen zu treffen.